Overall (Bekleidung) als freiheitsentziehende Maßnahme?

Rechtsbeziehung Patient – Therapeut / Krankenhaus / Pflegeeinrichtung, Patientenselbstbestimmung, Heilkunde (z.B. Sterbehilfe usw.), Patienten-Datenschutz (Schweigepflicht), Krankendokumentation, Haftung (z.B. bei Pflichtwidrigkeiten), Betreuungs- und Unterbringungsrecht

Moderator: WernerSchell

Lutz Barth
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Zur Diskussion gestellt!

Beitrag von Lutz Barth » 05.03.2010, 18:59

Zwei Anmerkungen seien gestattet:

@Kunst: Die Literaturhinweise sind instruktiv, wenngleich doch bei näherer Betrachtung die Auffassung von Böhm nicht zu überzeugen vermag.

"Verhindern körperlicher Bewegungen (abschließbarer Overall) Kratzen, Kotschmieren, Beseitigung angelegter Verbände etc. können durch einen abschließbaren Overall verhindert werden. Nach der Definition in § 1906 Abs. 4 handelt es sich dabei sicher um eine mechanische Vorrichtung mit der „die Freiheit entzogen werden soll“ (Böhm, aaO., S. 52) und genau dies ist der neuralgische Punkt: so sicher ist das nun nicht, wie sich unschwer aus der Kommentarliteratur zu § 1906 Abs. 4 BGB ergibt.

Entscheidend dürfte wohl sein, dass die Vorschrift restriktiv auszulegen ist und primär auf unterbringungsähnliche Maßnahmen zu beschränken ist (so zutreffend Diederichsen, in Palandt, BGB-Komm., Rdnr. 17).


@ Fröhlich-Rockmann: Ungeachtet eines pflegefachlich gebotenen Darmanagements lege artis würde ich doch zu bedenken geben wollen, dass ein Träger auch die Interessen derjenigen Bewohner zu berücksichtigen hat, die an dem Verhalten anderer Bewohner Anstoß nehmen. Auch hier gilt prinzpiell, dass die anderen Bewohner sich nicht zum Zwecke einer Therapie instrumentalisieren lassen müssen.

Sofern die Vorschrift restriktiv auszulegen ist, kann nicht mehr wie selbstverständlich davon ausgegangen werden, dass der Overall als ein unerlaubter Eingriff in die "Freiheit" der Person zu qualifizieren ist, zumal hier der Begriff der "Freiheit" zu definieren wäre. Der Overall hindert sicherlich nicht an der potentiellen Fortbewegungsmöglichkeit der Bewohnerin, so dass hier wohl ein Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit zu erörtern wäre.

Gruß Lutz Barth
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thorstein
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Overall (Bekleidung) als freiheitsentziehende Maßnahme

Beitrag von thorstein » 05.03.2010, 19:34

Sehr geehrter Herr Barth,

vielleicht gibt es ja doch einen Unterschied, was Juristen - auf der Grundlage von was auch immer - und was ein Betroffener als freiheitsentziehende Massnahme begreift. Ich kenne durchaus Bewohnerinnen, die sich durch einen Overall überhaupt nicht gestört fühlen. Allerdings gibt es auch Bewohnerinnen, die man schweißgebadet im Bett vorfindet, weil sie wohl schon seit Stunden verzweifelt versuchen, dieses Ding auszuziehen. Das Gleiche gilt für sogenannte Bettgitter: manche BewohnerInnen interessiert es nicht, ob das Bettgitter angebracht wird oder nicht. Darum kommt aber niemand auf die Idee, diese Dinger nicht als freiheitsentziehende Massnahme zu bergreifen.

Da ich - nach meinem Kenntnisstand - bislang die einzige Pflegefachkraft war, die sich zu diesem Thema geäußert hat, darf ich ihnen versichern, dass ihre Forderung nach einer Expertise wenig Sinn macht. Soviel kann ich beitragen: Das Thema Ausscheiden ist ein explizit zu planender Punkt, was die Anamnese beim Einzug und eine Verlaufskontrolle einschließt. Alle anderen Fragen und Antworten ergeben sich aus der persönlichen Pflege und Betreuung der Bewohnerin, den regelmässigen Ausstausch mit Ärzten und Betreuern eingeschlossen. Einen Standard kann ich ihnen da nicht nennen.

Grundsätzlich würde ich es Begrüßen, wenn der Einsatz von Overalls einer richterliche Genehmigung voraussetzen würde. Das Gleiche würde ich mir auch beim Einsatz von Neuroleptika bei Demenzkranken wünschen, was ja auch zum Thema freiheitsentziehende Massnahmen gehört.

Lutz Barth
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Expertise!

Beitrag von Lutz Barth » 05.03.2010, 20:35

Verehrter Herr Thorstein.

Zunächst muss davon ausgegangen werden, dass wir Juristen uns an den Rechtsgrundlagen orientieren, die sich uns bieten und dies sind in erster Linie die Gesetze, in deren Natur es liegt, nicht alle Einzelfälle erfassen zu können und zwar ungeachtet der Tatsache, ob wir dieses Gesetz für gut, schlecht oder schlicht für entbehrlich halten (mal von dem Sonderfall der Verfassungswidrigkeit abgesehen).

Andererseits bin ich nunmehr ein wenig irritiert, wenn Sie als Pflegefachkraft meinen, dass die diesseitige Forderung nach einer Expertise wenig Sinn macht; ich kann mir das nur erklären, dass wir hier ggf. den Begriff der Expertise unterschiedlich deuten, der m.E. nicht mit einem "Standard" gleichzusetzen ist, sondern durchaus der individuellen Betreuungssituation gerecht werden sollte und genau das einfordert, was Sie in der Folge auch zu bedenken geben.

Insofern bin ich jedenfalls dankbar, dass in dem interessanten Thread sich eine Pflegefachkraft zu Wort gemeldet hat und darauf hinweist, dass das Ausscheiden ein "explizit zu planender Punkt" ist - ein Aspekt, der wohl einer guten fachlichen Pflege entspricht und im Übrigen sich zu einer aus dem Vertrag zwischen Träger und Bewohner entspringenden Vertragspflicht (arg. § 280 BGB), aber auch ggf. Schutzpflicht (arg. § 823 BGB) verdichtet hat.

Der geschilderte Fall ist demzufolge neben der Frage nach den Grundrechtseingriffen sowohl unter straf- und primär unter zivilrechtlichen Aspekten betrachtet interessant. Je nach "Wertung" könnte zivilrechtlich u.a. eine Schutzpflichtverletzung vorliegen, die dann freilich zum Schadensersatz führen könnte.

Denn prinzipiell gilt: der Vertragspflichtige hat sich bei dem Vollzug resp. Abwicklung des Pflege(heim)vertrages so zu verhalten, dass z.B. Körper und Gesundheit, aber auch sonstige Rechtsgüter des anderen Vertragsteils (hier also BewohnerInnen) nicht verletzt werden.
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ThomasH
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Overall (Bekleidung) als freiheitsentziehende Maßnahme

Beitrag von ThomasH » 06.03.2010, 09:02

Liebe Leserinnen und Leser,

ohne Frage ist die Rechtsabfolge, hier die Einholung eines richterlichen Beschlusses, einzuhalten. Insofern bin ich weiterhin dankbar für die Stellungnahmen von Herrn Barth.
Persönlich sehe ich den "Pflegeoverall" entsprechend dem "Seniorensessel" (vgl. Klie), als FEM (ff = freiheitsentziehende Maßnahme).
Betrachte ich den Sinn und Zweck der Rechtsabfolge bei FEM, so steht das Wohl des mit der FEM betroffenen Menschen im Vordergrund. Es sollen damit willkürliche Handlungen der Pflegenden vermieden werden (vgl. "Einer flog über das Kuckucksnest").
Neben dem Wohl des betroffenen Menschen ist jedoch immer auch das Wohl der Allgemeinheit zu beachten und ggf. zu schützen.
Findet das Kotschmieren im Einzelzimmer statt, ist das Wohl der Allgemeinheit sicherlich nicht berührt. Im Einzelfall könnte die Frage der Separierung des betroffenen Menschen, als aus meiner Sicht weitere FEM, zu diskutieren sein.
Es bleibt also die Frage nach der Angemessenheit im Einzelfall, wie zu Recht in einem Beitrag, in diesem Thread, beschrieben. Läßt sich bei Anwendung der FEM erkennen, dass der betroffene Mensch darunter leidet, muss die Maßnahme - auch mit richterlichem Beschluss - deutlichst in Frage gestellt werden und ist oftmals - trotzt vorliegendem richterlichen Beschluss - nicht zu rechtfertigen und zu praktizieren.

Aus meiner Sicht, aus der Pflege, stellt sich die Frage, müsste die Besuchsfrequenz des Bewohners (inkl. weibl.) im vorgestellten Fall nicht erhöht werden um dadurch das Kotschmieren vermeiden zu können? Ich weiß, diese Frage endet schnell an der Personaldichte in stat. Einrichtungen; aber darum geht es hier nicht und darf auch nicht berücksichtigt werden.
In wie weit grundsätzlich, bei einem Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz (= Status der Bettlägerigkeit, in embryonaler Körperhaltung) ein Abführegieme eingeführt und praktiziert werden kann, betrachte ich kritisch. Letztlich warum auch oder wodurch zu argumentieren? Wenn ehedem das Kotschmieren anfällt, scheint doch die Defäkation im vorliegenden Fall zu funktionieren.

Damit die im vorliegenden Fall betroffene Einrichtung Rechtssicherheit erlangt, wäre der richterliche Beschluss sicherlich empfehlenswert.
Wenn die Einrichtung jedoch Pech hat und der betroffene Mensch Glück, wird der zuständige Richter genau auf die zurückliegend ergriffenen Maßnahmen und die noch nicht ergriffenen Maßnahmen, zur Vermeidung der FEM durch einen Overall, abstellen. Es könnte der Hinweis ergehen, dass der betroffene Bewohner z. B. stündlich zu besuchen ist und sein Ausscheidungsverhalten zu kontrollieren ist um dadurch ein Kotschmieren von vorne herein zu vermeiden. Wenn der Richter gut ist (vgl. Beschlusssache Bettgitter, zur Vermeindung Bettsturz, Matratze auf den Boden).

Ich selbst gebrauche in Verbindung bei der Pflege von Menschen mit einer Demenz gerne den Ablauf/Verlauf der kindlichen Entwicklung. Bei einem Menschen mit Demenz eben im umgekehrten Verlauf. Dadurch kann ich mir Fragen zur angemessenen Vorgehensweise oftmals leichter beantworten, zum Wohle des Menschen mit einer Demenz.
Somit stelle ich mir die Frage, wie lange habe ich meine Kinder sich ihrer mit kotverschmierten Windel aushalten lassen?

Was die verantwortliche Pflegekraft (PDL) betrifft, so schreibe ich aus meiner Sicht als PDL, ein typisches Bespiel für eine inkompetent besetzte Pesonalstelle (zumindest in diesem Punkt und ohne tiefere Kenntnis im vorliegenden Einzelfall). Alleinig das Verbot einer Handlung durch einen Verantwortlichen hilft niemals weiter, solange der gemeinsame Lösungsansatz entbehrlich bleibt.

Einen Arzt brauche ich nach meinem Dafürhalten in der Sache nicht.
Die Kompetenzen der Pflege halte ich hier für ausreichend und als alleinig gefordert.
Ok., ggf. doch, um der o. g. Rechtsabfolge Rechnung zu tragen, mehr aber auch nicht. Diese Sinnhaftigkeit ist Fragwürdig und an anderer Stelle zu diskutieren.

Abschließend also die Frage: Können unsere stat. Pflegeeinrichtungen die erforderlichen Aufgaben menschenwürdig erbringen?
Sind stat. Pflegeeinrichtungen menschenwürdig oder vielmehr ein notwendiges Übel, in Folge der gesellschaftlichen Ignoranz?
Verwendet die Pflegestandards, aber ausgerichtet an der Notwendigkeit des Einzelnen. Und dazu zählt eine individuelle Pflegeplanung und kein überstülpen eines Standards auf den Einzelnen.
Denn letztlich wird von Gericht geklärt, welche individuelle Maßnahme war bei dem Einzelnen erforderlich und nicht ob ein Standard eingehalten wurde.
Und wer versucht pflegerisches Handeln mit Personalnöten rechtfertigen zu können wird schnell die "Qualtitäsampel" abgebaut bekommen.


Mit den besten Grüßen
Thomas Hahn

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Overall (Bekleidung) als freiheitsentziehende Maßnahme

Beitrag von G. Fröhlich- Rockmann » 06.03.2010, 10:29

zu Barth: Jeder Träger (egal welcher Eigentumsform) ist in der Bunderepublik Deutchland gehalten das Grundgesetz einzuahlten und allen seinen Bewohnern die dort garantierten Grundrechte zu gewähren, dass gilt aus meiner Sicht insbesondere und gerade für Menschen mit Demenz, die durch diese Erkrankung (genau wie bspw. psychisch erkrankte Menschen) durch ihre Erkrankung nicht automatisch ihre Rechte verlieren. Es ist eine Frage der Organisation der Pflegeeinrichtung Interessen Anderer zu schützen. Würde ich Ihrer Argumentation folgen käme ich zu dem Schluss das Pflege von Menschen mit Demenz (u.a.) in gemeinschaftlich genutzten Einrichtungen nicht möglich ist. Im Zweifelsfall halte ich eine Interessenabwägung immer im Sinne der Einhaltung des GG für erfolgssicher.

Ich stimme tendenziell den Ausführungen von ThomasH zu und möchte dennoch im Zusammenhang mit anderen Beiträgen betonen, dass Freiheitsentziehung mittels Medikamente (heißt medikamentöse Sedierung) den gleichen gesetzlichen Bestimmungen unterliegt wie der Nutztung von Bettgittern, Gurten etc! Auch hier ist eine Einwilligung des Patienten, eines vom Patienten Bevollmächtigten, eines vom Gericht bestellten Betreuer oder eben ein Gerichtsbeschluss notwendig

Ich kenne im übrigen keine einzige Form der Sedierung oder Fixierung, die den natürlichen Verdauungsprozess des Menschen unterbindet.

Es wird allerdings auch nicht möglich sein jeden einzelnen Fall ganz individuell an den Erfordernissen der betroffenen Person per Gesetz von vornherein zu regeln.

Ich bin mir jedoch sicher, ein Großteil der in der Pflege auftretenden Schwierigkeiten ohne Anrufung von Gerichten gelöst zu bekommen, wenn denn Pflege persönliche Zuwendung, Berücksichtigung individueller Krankheitsbilder und Bezguspflege möglich machen würde. Das dem u.a. wegen fehlendem Personal in der Praxis nicht so ist ist mir schon bewusst.
670.000 pflegende Angehörige zeigen in Deutschland jedoch jeden Tag das es auch anders geht!

Ich für meine Person werde es jedoch nicht akzeptieren, dass deshalb die Schwächsten Glieder unserer Gesellschaft, meine die Pflege- und Hilfsbedürftigen, diese Missstände bis hin zur Freiheitberaubung und Missachtung der Menschenwürde auszubaden hätten.

Mit freundlichen Grüßen
Gerd Fröhlich-Rockmann
Es ist der Mensch und nicht die Krankheit

Lutz Barth
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Einige Anmerkungen!

Beitrag von Lutz Barth » 06.03.2010, 11:05

@ThomasH: Bemerkenswerter Beitrag, der im Kern meine volle Zustimmung trifft.

Die zwischen den Zeilen aufgeworfene Frage - Problematik der "Personaldichte" - ist ein gewichtiger Aspekt, der sich durch eine ökonomische Analyse auch von Recht (!) erhellen lässt. Dies deshalb, weil nicht zuletzt der BGH sich im Rahmen etwa seiner Entscheidungen zur Sturzproblematik sich von "personell und wirtschaftlich zumutbaren Kritierien" hat leiten lassen - die ich allerdings für verfehlt erachte.

Ich würde aber der Diagnose auch des Arztes eine Bedeutung beimessen, weil im Zweifel hier eine ärztlich Therapie geboten ist (Stichwort: Differenzialdiagnose, in der Ergebnis dann durch die "Pflege" gefordert ist).


@Fröhlich-Rockmann: Als ein Verfechter von Freiheiten in einem säkularen Verfassungsstaat ist es auch mir ein besonderes Anliegen, für einen konsequenten Grundrechtsschutz einzutreten. Aber gleichwohl bietet das Recht auch unterverfassungsrechtlich die Möglichkeit, angemessen auf Rechtsgutverletzungen zu reagieren, zumal dies die Regel ist. Wir dürfen in diesem Zusammenhang stehend nicht vergessen, dass Grundrechte in erster Linie subjektive Abwehrrechte gegenüber dem Staat sind und zwar auch in Kenntnis der sog. Drittwirkungstheorie resp. Lehre der Grundrechte in Privatrechtsverhältnissen.

Nun - in der Tat neige ich angesichts der flukturienden Verlaufssymptomatik einer Demenz bis hin zu einer schweren Ausprägung in bestimmten Fällen dazu, die Frage nach der Geeignetheit einer offenen Einrichtung zu problematisieren, da ich - entgegen manch anderer Stimmen in der Literatur - nicht zur Verklärung der Demenz beitrage. Dies hier auszuführen, würde allerdings den Thread "sprengen".
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Im konstruktiven Dialog

Beitrag von ThomasH » 06.03.2010, 12:10

Sehr geehrter Herr Barth,
liebe LeserInnen,

Sie haben erneut Recht. Sicherlich und ohne Frage und Kritik ist und bleibt die Stellung einer medizinischen Diagnose dem ärztlichen Berufsstand vorbehalten.
Erfreulich, dass Sie als "Nichtpflegeberufler" die hohe Wichtigkeit der Differenzialdiagnose herausstellen.
Aber um bei dem vorliegenden Fall zu bleiben, ist hier wohl eher von einer fortgeschrittenen Demenz auszugehen, woraus ich ableite, dass die Diagnose(n) gestellt ist/sind.
Wenn dem so ist, bin ich weiterhin der Meinung, auch und im Besonderen, dass die Expertise über den Einzelnen vom Berufsstand der Pflege ausreichend ist um mit einem verantwortungsvoller Richter, mit einem humanistischen Meschenbild, eine ggf. unabänderliche FEM einzurichten.

Klar, der leichtfertige Umgang mit "ruhigstellenden Medikamenten", teilweise auch von der Pflege gefordert (soviel Selbstkritik sei erlaubt), bei Verwendung der Bezeichnung "herausvorderndes Verhalten" zur Vermeidung des Selben, ist eine Katastrophe und die Menschenwürde verachtend schlecht hin.
Aus meiner Sicht der Dinge, kann ein Mensch, welcher an einer Demenz erkrankt ist, sich per se nicht herausvordernd verhalten. Er kann nur in seiner "Welt" und Denkleistung auf die "normale Welt" reagieren. Es ist somit immer die "normale Welt" die "herausvorderndes Verhalten" provoziert, bzw. sich herausvorderend verhält.
Und das ggf. durch den Gebrauch eines "Pflegeoveralls".

Da mir mein Pflegebett näher ist als mein Kinderbett, ist mir dieser Diskurs wichtig (= statistische Betrachtung, ich feiere heute meinen 46´sten Gebu.)

Frohes Gelingen bei allen Dingen
Thomas Hahn

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Re: Im konstruktiven Dialog

Beitrag von G. Fröhlich- Rockmann » 06.03.2010, 15:12

ThomasH hat geschrieben:
Aus meiner Sicht der Dinge, kann ein Mensch, welcher an einer Demenz erkrankt ist, sich per se nicht herausvordernd verhalten. Er kann nur in seiner "Welt" und Denkleistung auf die "normale Welt" reagieren. Es ist somit immer die "normale Welt" die "herausvorderndes Verhalten" provoziert, bzw. sich herausvorderend verhält.
Und das ggf. durch den Gebrauch eines "Pflegeoveralls".
Und das gilt nach meiner Sicht genauso für den verantwortungslosen Umgang mit dem Recht in Bezug auf Menschen mit Demenz oder anderer psychiatrischer Erkrankungen.

Ich kann Ihre Auffassung Herr Barth durchaus tolerieren, für meine Geschmack sind Sie jedoch demnach nicht geeignet die Interessen eines Menschen mit Demenz zu vertreten, da befangen.

Alles Gute zum Geburtstag Thomas H!

Mit freundlichen Grüßen
Gerd Fröhlich-Rockmann
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Lutz Barth
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Beitrag von Lutz Barth » 06.03.2010, 21:40

Zunächst sei es mir gestattet, ein Lob auszusprechen: Der Thread hat insofern eine gewisse Qualität, weil hier - soweit erkennbar - nachhaltig über ein Problem diskutiert wird, dass von mehreren Professionen aufgenommen wird und zwar, ohne dass irgendeiner Profession eine dominierende Rolle eingeräumt wird.

Dies ist lobenswert, weil zumindest in diesem Thread deutlich geworden ist, dass auch Juristen etwas zur Diskussion beitragen können, ohne den fachlichen Diskurs zu belasten.

Im Einzelnen:

@Thomas H: Differenzialdiagnostische Maßnahme, sofern erforderlich, sind stets im Rahmen einer lege artis - Behandlung gefordert und sofern dann im Team hieraus die Konsequenzen gezogen werden, ist dies allemal begrüßenswert.

Auch ich möchte nicht verabsäumen, Sie zum Geburtstag zu gartulieren und bei fortgeschrittener Stunde alles Gute wünschen, auch wenn Sie ggf. erst morgen diese Nachricht erreichen wird! :wink:

@Fröhlich-Rockmann: Verehrter Herr Fröhlich-Rockmann, es geht nicht um "Toleranz" und insofern darf ich bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, dass ich es durchaus verstanden habe und auch weiterhin verstehe, ohne Emotionen und Verklärungsstrategien für Demenzpatienten einzutreten.
Enhtscheidend ist für mich die Erkenntnis seit Studientagen, dass gerade die Juristen "fürchterlich" sind, die sich von Emotionen beeindrucken lassen und daran ihre Rechtsfindung orientieren. Ich habe bereits während des Studiums den zweifelhaten Ruf genossen, ein "advokatus diaboli" zu sein, dem die Sensibilität für Einzelschicksale abzugehen scheint. Nun - nach nahezu 30 Jahren Tätigkeit einschl. des Studiums in der Rechtswissenschaft darf ich Ihnen selbstkritisch versichern, dass ich meine "Haltung" zum Recht und der "Gerechtigkeit" nicht abändern wäre - zumal nicht in den Fällen,wie es vielleicht dem Mainstream entspricht oder diesem geschuldet ist. Die streitige Auseinandersetzung mit Klie in der Zeitschrift PflegeRecht legt hierüber insoweit beredtes Zeugnis ab so wie die Debatte um die Frage nach der Verbindlichkeit nach einer Patientenverfügung eines Demenzpatienten, in der erneut Klie neben Chr. Student in mein "Visier" geraten sind.

Ich bin weder "befangen" noch zu "blauäugig", die Botschaften mancher Kollegen oder anderer Professionellen als "bare Münze" hinzunehmen, so dass ich mir erlaube, auch darauf hinzuweisen, dass die Demenz für eine stationäre Alteneinrichtung ein erhebliches Problem darstellt und nicht dadurch entschärft wird, in dem wir den beruflich Pflegenden die manchmal nicht lösbare Aufgabe zuweisen, "lege artis" zu reagieren!

Ihnen ein schönes WE gewünscht und ich hoffe, dass der Thread weiter an Fahrt aufnehmen wird und zwar bis zu dem Punkt, wo wir gemeinsam eine vertretbare "Lösung" anbieten können.

Mit freundlichen Grüßen
Lutz Barth
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Ina Böhmer
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Overall als freiheitsentziehende Maßnahme oder nicht ?

Beitrag von Ina Böhmer » 07.03.2010, 08:02

Guten Morgen an alle!

Ich bin auch sehr angetan von der laufenden Diskussion. Sie hat mir neue Erkenntnisse gebracht, aber einige Fragen sind wohl weiter offen.

Nach meiner Einschätzung ist es nun so, dass die Verwendung eines vom Betroffenen nicht zu öffnenden Overalls, zwangsweise zur Gefahrenminimierung angelegt, eine freiheitsentziehende Maßnahme (feM) ist, die sich an Art. 2 GG und den einschlägigen Gesetzen messen lassen muss. Da aus meiner Sicht der Eingriff das Freiheitsrecht entscheidend berührt, gehe ich von einer Genehmigungspflicht durch das Betreuungsgericht aus.

Im Rahmen eines Genehmigungsverfahren wäre natürlich u.a. auch zu prüfen, ob und welche weniger eingreifenden Maßnahmen in Betracht kommen. Insoweit sehe ich noch keine wirklich hilfreiche Lösung. Natürlich könnte man ohne Freiheitsentziehung besser helfen, wenn es ausreichend Personal gäbe. Also fordern wir an dieser Stelle doch auch mehr Personal für die Pflegeeinrichtungen. Ohne solche "Aufrüstungen" wird die Betreuung, Zuwendung, immer zu kurz komen: Dann müssen andere, vielleicht eingreifende, Maßnahmen erwogen werden.

Im hier angesprochenen Fall hat die PDL den Freiheitsentzug untersagt, aber bisher gibt es keinen Hinweis darauf, wie sie denn das Problem gelöst haben will. Ein bloßes Handlungsverbot ohne Alternativen halte ich für unzureichend.

Ich würde also dafür plädieren, die Overallanlegung als genehmigungspflichtig einzustufen. Dann müssen sich Rechtsvertreter bzw. Betreuungsgericht dazu äußern, wie sie die Maßnahme beurteilen. Wenn ein Betreuungsgericht der Meinung zuneigt, eine Genehmigungspflicht liege nicht vor, wird es dies ausführen und die dann beim Betroffenen durchgeführten Maßnahmen sind "gerichtlich bestätigt" keine Freiheitsberaubung. Damit wäre zumindest das handelnde Personal auf der sicheren Seite.

Mir ist übrigens wiederholt bekannt geworden, dass Gerichte bestimmte Maßnahme großzügig einstufen. In einem Fall hat eine Richterin zum Bettgitter bemerkt: Lassen Sie mich doch damit in Ruhe. Vielleicht gibt es ähnliche Anmerkungen zum Overall?

Viele Grüße
Inna Böhmer
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Rauel Kombüchen
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Freiheitsentzug bei therapeutischen Maßnahmen

Beitrag von Rauel Kombüchen » 07.03.2010, 11:41

Hallo,

ich bin hinsichtlich der Beurteilung des verschlossenen Overalls unschlüssig, ob es sich hier wirklich um eine freiheitsentziehende Maßnahme handelt, die nach § 1906 BGB den besonderen Genehmigungsanforderungen zu unterwerfen ist.

In Knittel "Betreuungsgesetz", Loseblattsammlung, Verlag R.S. Schulz, ist zu § 1906 BGB u.a. ausgeführt, dass dann, wenn ein therapeutischer Zweck verfolgt und die Freiheitsentziehung lediglich als Nebenfolge in Kauf genommen wird, eine Genehmigungspflicht entfällt. Als Beispiele werden Fixierungen erwähnt, die den Betroffenen daran hindern sollen, einen Wundverband abzureißen oder den angelegten Gips zu beschädigen (BT-Drucks. 11/4528 S. 228). Ähnliches soll z.B. für Katherisierungen gelten.

Beim verschlossenen Overall steht auch nicht der Freiheitsentzug im Vordergrund, sondern allein die damit verbundenen Schutzwirkungen für den Betroffenen und die Allgemeinheit.

MfG Rauel
Pflegeversicherung - Pflegebegriff erneuern und Finanzierung nachhaltig sichern! BürgerInnen müssen mehr Informationen erhalten - z.B. wg. Individualvorsorge!

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Beitrag von G. Fröhlich- Rockmann » 07.03.2010, 13:12

Für mich bleibt immernoch die Frage offen welchen therapeutischen Zweck denn dieser Overal erfüllen soll/Kann????

Zur Erinnerung ein Zitat aus Wikipedia zum Begriff "Therapie"

"Die Therapie (griechisch θεραπεία therapeia „das Dienen, die Bedienung, die Dienstleistung, die Pflege der Kranken“[1]) bezeichnet in der Medizin die Maßnahmen zur Behandlung von Krankheiten und Verletzungen. Ziel des Therapeuten ist die Heilung, die Beseitigung oder Linderung der Symptome und die Wiederherstellung der körperlichen oder psychischen Funktion. Verschiedene Möglichkeiten zur Behandlung einer Krankheit werden oft als Therapieoptionen bezeichnet."

Nach meiner Sicht keine weshalb diese Begründung wohl auch nicht zum Freiheitsentzug heran gezogen werden kann bzw. einer ernsthaften objektven Würdigung wohl kaum Stand halten könnte.

Bedenken sollte man hierbei auch, dass jeder Patient in eine Therapie einwilligen muss und vor allem, dass eine etwaige Diagnose einer Demenz nicht automatisch die Geschäftsunfähigkeit des Betroffenen bedeutet! auch wenn uns das der Eine oder Andere Rechtsgelehrte immer wieder glauben machen will entspricht dies nicht dem Wortlaut geltenden Rechtes.

Auch bereits gerichtlich genehmigte Maßnahmen zur Freiheitsentziehung sind nicht automatisch als Geschäftsunfähigkeit des Betroffenen zu verstehen und der Freifahrtsschein für willkürliches Handeln.

Wenn ich hier noch einmal auf den eigentlichen "Fall" zurück komme sehe ich bisher nicht einmal eine ärztliche Verordnung zum Anlegen des Overals und bei meinen bisherigen Recherchen habe ich einen solchen Overal (im Gegensatz zu Bettgittern und anderen Hilfsmitteln zur Fixierung) auch nicht im Hilfsmittelkatalog der Kassen entdecken können, womit dieses Teil gar nicht verordnungsfähig sein dürfte.
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Beitrag von G. Fröhlich- Rockmann » 07.03.2010, 13:27

Hallo Rauel,

nachdem was ich hier lesen kann nimmt die Bewohnerin eben die Freiheitsentziehung nicht in Kauf...., auch nicht als "Nebeneffekt".

MfG GFR
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Brigitte Bührlen
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Wo Menschen fehlt wird der Overall angelegt.......

Beitrag von Brigitte Bührlen » 07.03.2010, 19:40

Jenseits aller juristischen, pflegerischen, menschenrechtlichen oder sonstigen Erwägungen stelle ich fest: ich möchte in keine Overallzwangsjacke gesteckt werden wenn ich dement bin.

Wenn ich Stuhlgang habe und nicht mehr weiss was ich damit anfangen soll, dann wäre es einfach schön, wenn irgendein Mensch das mitbekommen und mir helfen oder mich vielleicht im Vorfeld schon zur Toilette bringen würde.

Da wir offensichtlich nicht genügend Menschen für die Pflege haben bzw. bezahlen wollen, erfinden wir eben zwangsjackenähnliche Kleidungsstücke und viele andere Finessen................

Vielleicht sollten wir unsere gesamtgesellschaftliche Einstellung zum hilfsbedürftigen Mitmenschen überdenken?

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Beitrag von G. Fröhlich- Rockmann » 07.03.2010, 20:22

das kann ich doch nur ganz dick unterstreichen und zustimmen zu dem was Frau Bührlen da sagt!
Es ist der Mensch und nicht die Krankheit

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