Zwangsbehandlung trotz Patientenverfügung bei drohender Gefährdung Dritter

Rechtsbeziehung Patient – Therapeut / Krankenhaus / Pflegeeinrichtung, Patientenselbstbestimmung, Heilkunde (z.B. Sterbehilfe usw.), Patienten-Datenschutz (Schweigepflicht), Krankendokumentation, Haftung (z.B. bei Pflichtwidrigkeiten), Betreuungs- und Unterbringungsrecht

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Zwangsbehandlung trotz Patientenverfügung bei drohender Gefährdung Dritter

Beitrag von WernerSchell » 04.02.2020, 07:54

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Landgericht Osnabrück

Landgericht Osnabrück lehnt Wirksamkeit einer Patientenverfügung gegen Zwangsbehandlung in bestimmten Fällen ab

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Beschluss des Landgerichts (LG) Osnabrück vom 10.01.2020 - 4 T 8/20 – 4 T 10/20 - (Text unten angefügt)

Das Landgericht Osnabrück hat in einem Beschluss vom 10. Januar 2020 (Az. 4 T 8/20 – 4 T 10/20) die Wirksamkeit einer Patientenverfügung abgelehnt, mit der eine psychiatrische Zwangsbehandlung verhindert werden sollte. Nach Ansicht der Kammer können ungeachtet einer solchen Verfügung Zwangsbehandlungen insbesondere dann angeordnet werden, wenn dies jedenfalls auch dem Schutz der Allgemeinheit dient.

In dem Verfahren war von einer Gemeinde für eine psychisch kranke Person die zwangsweise gerichtliche Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung und eine Zwangsmedikation nach dem Niedersächsischen Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke beantragt worden. Die Gemeinde verwies darauf, dass die betroffene Person sexuell enthemmtes und aggressives Verhalten gegenüber Dritten zeige. Dem könne nur durch die Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung und eine medikamentöse Behandlung begegnet werden. Zudem sei die betroffene Person aufgrund einer potentiell lebensbedrohlichen körperlichen Erkrankung auf die Einnahme weiterer Medikamente angewiesen. Die betroffene Person verweigere jedoch jede Behandlung, weil sie aufgrund der psychischen Erkrankung die Lage nicht erfassen könne.

Das zuständige Amtsgericht Osnabrück gab dem Antrag der Gemeinde statt und ordnete für die betroffene Person die zwangsweise Unterbringung und Gabe der verschriebenen Medikamente an. Zur Begründung verwies das Amtsgericht auf die anderenfalls drohenden Gefahren für die betroffene Person selbst und für Dritte.

Gegen diese Anordnungen des Amtsgerichts wandte die betroffene Person sich mit der Beschwerde zum Landgericht Osnabrück. Begründet wurde die Beschwerde insbes. mit einer „Patientenverfügung“ der betroffenen Person. In dieser hieß es u.a., die betroffene Person lehne „jede Zwangsbehandlung egal mit welchen als Medikamenten bezeichneten Stoffen“ ab. Außerdem sei die „Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung strikt und verbindlich und unter allen Umständen zu unterbinden.“ Diese Verfügung beruhte auf einer im Internet abrufbaren Vorlage, die dort unter dem Slogan „Für Freiheit, gegen Zwang“ angeboten wird.

Die zuständige 4. Zivilkammer des Landgerichts Osnabrück wies die Beschwerde nun trotz der bestehenden Patientenverfügung zurück. Die Patientenverfügung stehe der Anordnung der Unterbringung und der zwangsweisen Medikation in einem Fall wie dem vorliegenden nicht entgegen.

Mit Blick auf die drohende Eigengefährdung der betroffenen Person durch die körperliche Erkrankung sah die Kammer die Verfügung erst gar nicht als berührt an. Die das Muster der konkreten Patientenverfügung bereitstellende Webseite richte sich offenkundig in politischer Weise gegen bestimmte Formen der psychiatrischen Behandlung. Das sei im konkreten Einzelfall bei der Auslegung der Verfügung zu berücksichtigen. Es sei insoweit davon auszugehen, dass auch der konkrete Patient/die konkrete Patientin, die die Verfügung nutze, sich damit alleine gegen psychiatrische Zwangsbehandlungen schützen wolle, nicht aber gegen die Behandlung körperlicher Beschwerden. Deren zwangsweise Behandlung könne daher ungeachtet der Patientenverfügung zum Schutz der betroffenen Person bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen angeordnet werden, insbesondere also, wenn die betroffene Person selbst die zwingende Notwendigkeit einer Behandlung nicht mehr erkennen könne.

Die Kammer kam darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass in einem Fall wie dem vorliegenden die Verfügung auch nicht der zwangsweisen Unterbringung und Medikamentenbehandlung wegen der psychischen Erkrankung entgegenstehe. Sowohl im Bürgerlichen Gesetzbuch als auch im Niedersächsischen Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke sei generell festgelegt, dass eine Patientenverfügung von Ärzten und staatlichen Stellen zu beachten seien. Dies entspreche dem allgemeinen Selbstbestimmungsrecht jedes Einzelnen. Zu den allgemeinen Grundsätzen der Rechtsordnung gehöre aber ebenso, dass das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen seine Grenze in den Rechten Dritter finde. Eine Patientenverfügung könne daher eine zwangsweise Behandlung dann nicht verhindern, wenn sie dem Schutz der Allgemeinheit, d.h. anderer Bürgerinnen und Bürger, diene. Stelle jemand aufgrund seiner Erkrankung eine Gefahr für Dritte dar, müsse das berechtigte Interesse der Allgemeinheit, notfalls eine Behandlung mit Zwangsmaßnahmen durchzusetzen zu können, sich gegen das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen durchsetzen. Diese Voraussetzungen sah die Kammer im konkreten Fall als gegeben an. Darüber hinaus sei zu bedenken, so die Kammer weiter, dass die zwangsweise medikamentöse Behandlung samt Unterbringung in einer entsprechenden Einrichtung in einem Fall wie dem vorliegenden dazu diene, den Zustand der betroffenen Person zu verbessern und sie in die Lage zu versetzen, wieder ein eigenständiges Leben zu führen. Dies diene gerade dazu, die zum Schutz der Allgemeinheit nötige Unterbringung möglichst kurz zu halten.

Die Entscheidung des Landgerichts Osnabrück ist nicht rechtskräftig. Die zuständige Kammer hat bezüglich der Frage, ob eine Patientenverfügung der Anordnung einer Zwangsbehandlung aufgrund einer drohenden Gefährdung Dritter entgegenstehen kann, die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof zugelassen. Die Kammer hat dies damit begründet, dass der Gesetzeswortlaut in Niedersachsen – wie in anderen Bundesländern – in dieser Frage nicht eindeutig sei. Auch das Bundesverfassungsgericht habe sich mit dieser Frage in seiner Rechtsprechung zur Zwangsmedikation nicht befassen müssen. Angesichts der grundsätzlichen Bedeutung dieser Frage sei deshalb eine – bisher noch nicht erfolgte – höchstrichterliche Klärung geboten.

Quelle: Pressemitteilung vom 15.01.2020
Richter Dr. Christoph Sliwka, LL.M. (Cambridge)
- Pressestelle -
Landgericht Osnabrück, Neumarkt 2,
49074 Osnabrück
Telefon: 05 41 - 3 15 1551
Telefax: 05 41 - 3 15 6248
christoph.sliwka@justiz.niedersachsen.de
Web: https://landgericht-osnabrueck.niedersa ... 84178.html



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Landgericht Osnabrück, Beschluss vom 10.01.2020, 4 T 8/20, 4 T 9/20, 4 T 10/20

Tenor
Auf die sofortige Beschwerde des Betroffenen gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts Osnabrück vom 02.01.2020 wird der Beschluss hinsichtlich der Zwangsbehandlung dahingehend teilweise aufgehoben, dass dem Betroffenen weder Valproinsäure noch Zuklopenthixol verabreicht werden darf. Im Übrigen werden die Beschwerden zurückgewiesen.
Die Rechtsbeschwerde wird zu der Frage zugelassen, ob eine Patientenverfügung eine Zwangsbehandlung bei Vorliegen einer Fremdgefährdung verhindern kann (Ziff. 2, lit. c), bb)).


Gründe
In dem ersten angefochtenen Beschluss, auf den Bezug genommen wird, hat das Amtsgericht im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß §§ 1, 14, 16, 17 NPsychKG die vorläufige Unterbringung des Betroffenen bis zum 12.02.2020 angeordnet. In einem weiteren, am selben Tag erlassenen Beschluss, wurde die zwangsweise Behandlung des Betroffenen mit Benperidol, Diazepam, Valproinsäure, Zuklopenthixol und Clexane in einer jeweils näher bezeichneten Tageshöchstdosis gemäß § 21a Abs. 2 S. 1 NPsychKG angeordnet, wobei dies bis zum 16.01.2020 befristet wurde. Gegen beide Beschlüsse richtet sich die fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde, die zulässig ist, in der Sache selbst aber überwiegend keinen Erfolg hat.
1. Von dem Betroffenen geht aufgrund seiner psychischen Krankheit eine gegenwärtige erhebliche Gefahr für Dritte und für ihn selbst aus und diese Gefahren können auf andere Weise als durch eine Unterbringung nicht abgewendet werden.
Nach sachverständiger Einschätzung des Oberarztes K. leidet der Betroffene an einer schizoaffektiven Störung und befindet sich in einer akuten Exazerbation dieser Grunderkrankung in einem manischen Zustand. Dieser sei durch Größenideen, einer erheblichen Anspannung, einem Impulskontrollverlust und einer erheblichen Distanzminderung mit sexueller Enthemmung gekennzeichnet. Durch ein provokantes Auftreten und raptusartige Reaktionen des Betroffenen sei eine Gewalttat im Falle einer Entlassung aus der stationären Umgebung unmittelbar zu erwarten. Je nach dem, mit wem sich der Betroffene in eine körperliche Auseinandersetzung verwickle, gehe davon sowohl eine erhebliche Fremd- als auch eine Eigengefährdung aus.
Eine weitere Gefahr folge für den Betroffenen daraus, dass er an einer Thromboseneigung leide. Um die akute Gefahr eines Infarkts mit möglicherweise tödlichem Verlauf zu vermeiden, sei aktuell eine tägliche Medikation mit einem Thrombosemedikament wie Clexane erforderlich. Weil der Betroffene jede Medikation ablehnte und ohne die Unterbringung nicht einnehmen würde, bestünde eine akute und erhebliche Gesundheitsgefahr für ihn.
Die geschilderten Gefahren könnten anders als durch eine stationäre Behandlung nicht abgewendet werden. Der Betroffene sei krankheitsuneinsichtig und aus medizinischer Sicht nicht reisefähig. Er sei insbesondere nicht in der Lage, sein Umfeld adäquat wahrzunehmen und gewonnene Eindrücke richtig zu verarbeiten.
Aus fachlicher Sicht sei eine Überwindung der manischen Phase seiner Exazerbation vor Ablauf des 12.02.2020 nicht zu erwarten. Allenfalls könnte eine Besserung dahingehend eintreten, dass der Betroffene in Begleitung in eine Klinik in Berlin verlegt werden, um dort weiterbehandelt zu werden.
Dieser Einschätzung schließt sich die Kammer nach dem Ergebnis der persönlichen Anhörung des Betroffenen an. Der Betroffene erklärte, psychisch nicht krank zu sein. Dabei trug er eine Pappkrone und zeigte dem Richter gegenüber ein unangemessenes, distanzloses Verhalten mit verbalen und gestischen Zuneigungsbekundungen. Medikamente wolle er keine einnehmen. Der Betroffene zeigte zudem Größenideen, indem er zahlreiche Ausbildungen und Qualifikationen aufzählte und eine Verhaftung der Ärzte im Namen des Volkes wollte. Schließlich zeigte er Verfolgungsideen, weil er finanzielle Komplotte der Ärzte gegen ihn beschrieb, mit jeder Spritze 100 Euro verdienen zu wollen.
Aus diesen Gründen steht zur Überzeugung der Kammer zu erwarten, dass der Betroffene nach seiner Entlassung aus der stationären Abteilung keine Medikamente nehmen, sich der Gefahr einer Thrombose aussetzen und gegenüber Dritten übergriffig werden wird. Eine ambulante Behandlung wird diese Gefahr nicht abwenden können. Die weitere Unterbringung des Betroffenen bis zum 12.02.2020 ist daher auch verhältnismäßig.
2. Auch die Voraussetzungen für die angeordnete ärztliche Zwangsmaßnahme liegen weitestgehend vor. Es bestehen dringende Gründe für die Annahme, dass die Voraussetzungen einer Behandlung gegen den natürlichen Willen des Betroffenen zur Herstellung der Voraussetzungen freier Selbstbestimmung im Sinne von § 21a Abs. 1 NPsychKG vorliegen.
a) Die Einnahme jedweder Medikamente widerspricht dem natürlichen Willen des Betroffenen. Dieser erklärte noch im Rahmen der persönlichen Anhörung, dass er keine Medikamente nehmen wolle.
b) Der Betreute kann die Notwendigkeit der Behandlung aufgrund seiner akuten Krankheit nicht erkennen. Dies ergibt sich zunächst aus seiner fehlenden Krankheitseinsicht. Ferner zeigt sich, dass ihm die Fähigkeit fehlt, sich inhaltlich mit der Behandlungsbedürftigkeit auseinanderzusetzen. Stattdessen wiederholt er, was in der persönlichen Anhörung deutlich wurde, Phrasen von im Internet veröffentlichten Ratgebern für Patientenverfügungen gegen Zwangsmedikationen. Dies zeigt, dass sein natürlicher Wille prinzipiellen Ideen des vermeintlichen Schutzes psychisch Kranker gegen „Folter“ folgt, statt von einer Abwägung über die Behandlungsbedürftigkeit im Einzelfall abhängig zu sein.
c) Ein nach § 1901a BGB zu beachtender Wille liegt mit der vom Rechtsanwalt des Betroffenen am 09.01.2020 übersandten Patientenverfügung nicht vor. In Bezug auf das Thrombosemedikament treffen die in der Patientenverfügung getroffenen Festlegungen nicht auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zu. Hinsichtlich der Medikamente Benperidol und Diazepam ist die Patientenverfügung unbeachtlich, weil diese Wirkstoffe im vorliegenden Fall der Abwendung einer gegenwärtigen, erheblichen Gefahr für Dritte dienen. Im Einzelnen gilt das Folgende:
aa) Die vom Betroffenen handschriftlich verfasste und bei seinem Rechtsanwalt hinterlegte Patientenverfügung stimmt vom Wortlaut überwiegend mit der Vorlage einer Patientenverfügung überein, die unter www.patverfue.de zum Download angeboten wird. Der Betroffene ließ nur wenige Passagen aus und fügte ein „Danke“ mit einem Herzchen hinzu.
Die Verfasser der vorgenannten Website, die mit der Schirmherrschaft einer deutschen Schauspielerin und dem Slogan „Geisteskrank? Ihre eigene Entscheidung!“ werben, stellen Unterbringungen und Zwangsbehandlungen ohne weitere Differenzierung als systematische staatliche Verletzung von Menschenrechten dar. Nach der angebotenen Textvorlage werden Behandlungen von psychiatrischen Fachärzten oder auf psychiatrischen Stationen „strikt“ untersagt. Ebenso wird ein Einsperren auf einer psychiatrischen Station als Behandlung bezeichnet und untersagt. Die Vorlage enthält schließlich die auch vom Betroffenen abgeschriebene Wendung, dass „jede Zwangsbehandlung egal mit welchen als Medikament bezeichneten Stoffen“ untersagt sei. Mit dem weiteren Motto „Für Freiheit, gegen Zwang“ und der auf der Website befindlichen Selbsteinschätzung, dass die Website die Selbstbestimmung sichere, wird die vorformulierte Patientenverfügung als Mittel dargestellt, sich durch eine Art juristischen Trick vor den staatlich veranlassten Grundrechtseingriffen („Körperverletzung und Freiheitsberaubung“) zu schützen. In diesem Zusammenhang wird suggeriert, dass es die eigene Entscheidung sei, ob man geisteskrank sei oder nicht. Dies alles verdeutlicht, dass die Website politischer Natur ist und sich speziell gegen psychiatrische Behandlungen richtet.
Indem der Betroffene die Vorlage der Website abgeschrieben, und Teile der politischen Statements in seiner persönlichen Anhörung wiederholt hat, wird deutlich, dass er sich diese Argumentation zu eigen macht.
Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass es ihm entgegen des Wortlauts seiner Erklärung, die jede Art von Zwangsmedikation umfasst, nicht darum ging, auch somatische Behandlungen auszuschließen. Die Behandlung seiner Thromboseneigung steht insofern in keinem Zusammenhang zur Kritik an psychiatrischen Behandlungen. Es ist daher nicht anzunehmen, dass der Betroffene lieber das konkrete Risiko eines möglicherweise tödlichen Herzinfarkts oder eines Hirnschlags eingeht, als im Rahmen eines Psychiatrieaufenthalts ein Thrombosemedikament einzunehmen.
bb) Unabhängig davon, ob die Patientenverfügung im Übrigen auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutrifft, ist sie nicht zur Verweigerung einer medikamentösen Maßnahme geeignet, die zulässigerweise zum Schutz Dritter erfolgt (Steiner/Stolz, BtPrax 2018, 174 (175); Henking/Mittag, BtPrax 2014, 115). Das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen findet insofern seine Grenze in den Grundrechten Dritter.
Das Gericht verkennt nicht, dass der Wortlaut des niedersächsischen PsychKG in Bezug auf die Patientenverfügung keinen Unterschied zwischen einer Eigen- und einer Fremdgefahr macht, wie dies etwa in § 20 Abs. 6 des baden-württembergischen PsychKHG der Fall ist. Dem liegt jedoch keine bewusste gesetzgeberische Entscheidung zugrunde.
Die insofern maßgebliche Begründung zum Gesetzesentwurf geht kaum über den Wortlaut der Norm hinaus und enthält keine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Thematik (Drucksache des Niedersächsischen Landtags, 17. Wahlperiode, Drucksache 17/7146, S. 29). Dies steht in Einklang mit dem Anlass des Änderungsgesetzes, welches der Umsetzung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Zwangsmedikation dienen sollte (LT-Drucks. a.a.O., S. 13). Das Bundesverfassungsgericht hatte sich zuvor mit den Voraussetzungen einer medizinischen Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug zu beschäftigen. Es erkannte die Statthaftigkeit einer solchen Maßnahme dem Grunde nach an, stellte aber eine Reihe von materiellen und verfahrensrechtlichen Erfordernissen dafür auf. Insbesondere betonte es den Richtervorbehalt, der nicht in allen Landesgesetzen niedergelegt worden war und insofern zur Unwirksamkeit dieser Regelungen führte. Das Fehlen einer Patientenverfügung wurde vom Verfassungsgericht nicht als Voraussetzung einer Zwangsbehandlung behandelt. Es ist daher davon auszugehen, dass sich auch der niedersächsische Gesetzgeber keine Gedanken um die konkrete rechtliche Bedeutung von Patientenverfügungen bei Fremdgefahr gemacht hat.
Nach seinem Sinn und Zweck ist § 21a Abs. 1 Nr. 2 NPsychKG daher dahingehend restriktiv auszulegen, dass eine Patientenverfügung eine Zwangsbehandlung nur verhindern kann, wenn ausschließlich eine Eigengefährdung vorliegt. Im Falle einer Eigengefahr sind, soweit der psychisch Kranke unbehandelt bleibt, nämlich keine Rechtsgüter Dritter berührt. Der Betroffene, der sich aufgrund seiner Patientenverfügung nicht behandeln lässt und die psychiatrische Einrichtung damit zu seiner Entlassung bewegt, geht lediglich für seine Rechtsgüter Leib und Leben Gefahren ein. Auf diese Rechtsgüter kann er in diesem Rahmen nach dem Willen des Landesgesetzgebers verzichten.
Anders ist dies, sobald von dem Betroffenen eine Gefahr für Dritte ausgeht. Über Rechtsgüter Dritter kann der Betroffene nicht disponieren. Er kann ihren Schutz auch nicht durch Patientenverfügung ausschließen. Aus Gründen der Gefahrenabwehr könnte man den Betroffenen nicht unbehandelt entlassen. Wenn man ihn nicht behandeln kann, bleibt damit als einzige Alternative eine weitere Unterbringung im Sinne einer Verhinderungsverwahrung. Je nach Krankheitsbild ist nicht absehbar, wann und ob der Betroffene ohne psychiatrische Behandlung die Voraussetzungen freier Selbstbestimmung wiedererlangt. Es könnte daher sein, dass der Betroffene auf unabsehbare Zeit in seiner Freiheit eingeschränkt und in einem geschützten psychiatrischen Krankenhaus festgehalten werden muss. Abgesehen von den damit entstehenden Kosten würde dies aufgrund der zeitlichen Dauer einen deutlich schwereren, weil zeitlich nicht beschränkten Grundrechtseingriff bedeuten, als die Grundrechtseingriffe, die mit einer Zwangsmedikation zur Wiederherstellung der freien Selbstbestimmung verbunden sind. Dieses Ergebnis kann vom niedersächsischen Gesetzgeber nicht bezweckt gewesen sein.
Der bayerische Gesetzgeber hat parallel zur niedersächsischen Rechtslage das Fehlen eines nach § 1901a BGB zu beachtenden Willes als Voraussetzung einer Zwangsbehandlung, ohne dabei zwischen einer Eigen- oder Fremdgefahr zu differenzieren. In seiner Gesetzesbegründung führt er indes explizit aus, dass Behandlungsmaßnahmen zum Schutz Dritter ohne Rücksicht auf die Einsichtsfähigkeit der betroffenen Person oder ihrem entgegenstehenden freien Patientenwillen zulässig sind (Bayerischer Landtag, 17. Wahlperiode, Drucksache 17/21573, S. 46). Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist davon auszugehen, dass auch die niedersächsische Regelung entsprechend zu behandeln ist. Damit ist eine Patientenverfügung für die Zulässigkeit einer Zwangsbehandlung ohne Bedeutung, sobald von dem Betroffenen wie hier eine konkrete und erhebliche Fremdgefährdung ausgeht.
d) Die behandelnden Ärzte haben ernsthaft, ohne Anwendung von Druck und mit dem erforderlichen Zeitaufwand versucht, den Betroffenen dazu zu überreden, die Medikamente freiwillig einzunehmen. Ferner wurde dem Betroffenen versucht, die Wirkweise zu erläutern. Zu berücksichtigen ist hier, dass der Betroffene auf der Station gleich nach Einlieferung sehr übergriffig und distanzgemindert war; so machte er anderen Patientinnen mit dem Angebot einer Samenspende eindeutige und übergriffige Avancen. Deshalb, und weil der Betroffene die Einnahme von Medikamente vehement ablehnt, war es angemessen, den Zeitraum von einem Tag für den Versuch genügen zu lassen, um den Betroffenen zur freiwilligen Einnahme zu überreden.
e) Die Behandlung dient ausschließlich dem Ziel, die tatsächlichen Voraussetzungen der Selbstbestimmung des Betroffenen so weit wie möglich wiederherzustellen, um ihm die Chance der Beendigung der Unterbringung und insbesondere seine Weiterreise zu ermöglichen. Insofern wird auf die ärztliche Stellungnahme vom 02.01.2020 verwiesen. Von der Richtigkeit der ärztlichen Einschätzung in Bezug auf Benperidol und Diazepam ist das Gericht aufgrund der aus anderen Fällen bekannten Wirkweise dieser Präparate überzeugt.
g) Die Behandlung mit Benperidol, Diazepam und Clexane ist zur Erreichung des Ziels geeignet, die Selbstbestimmung des Betroffenen wiederherzustellen. Dabei dient die Behandlung mit dem letztgenannten Wirkstoff überwiegend der Lebenserhaltung für den Zeitraum, den der Betroffene braucht, um seine Selbstbestimmung wiedererhalten zu können. Die weiteren Wirkstoffe, Valproinsäure und Zuklopenthixol, wurden dem Betroffenen bisher nicht verabreicht, weil die erstgenannten Medikamente bei ihm in ausreichendem Umfang anschlugen. Nach Einschätzung des behandelnden Oberarztes ist vorerst nicht zu erwarten, dass Valproinsäure oder Zuklopenthixol noch dringend notwendig werden. Eine Anordnung der Zwangsmedikation ist für diese beiden Wirkstoffe daher zum jetzigen Zeitpunkt nicht angemessen und erforderlich.
h) Mit den obigen Ausführungen ist die Behandlung mit Diazepam, Benperidiol und Clexane zum Wohl des Betroffenen notwendig, um drohenden, erheblichen gesundheitlichen Schaden von ihm abzuwenden. Dies ergibt sich zur Überzeugung der Kammer daraus, dass die Medikamente laut Auskunft des Oberarztes K. bis einschließlich zum Wochenende zunächst angeschlagen hatten und ohne relevante Nebenwirkungen eine gesundheitliche Besserung brachten. Mit der Erläuterung des Oberarztes K. ist eine weitere Behandlung notwendig, um den Betroffenen aus seinem akut manischen Zustand zu holen. Nur so können die vorgenannten Gefahren verhindert und dem Betroffenen ermöglicht werden, ein geordnetes Leben zu führen. Die verordneten Medikamente sind nach den fachmedizinischen Ausführungen geeignet, diese Besserung zu bewirken.
Weniger belastende Mittel zur Abwendung des drohenden gesundheitlichen Schadens sind keine ersichtlich. Der Nutzen der medizinischen Zwangsmaßnahme übersteigt die Beeinträchtigungen deutlich.
i) Für die Genehmigung einer Zwangsmaßnahme besteht zudem ein dringendes Bedürfnis, weil sich der Betroffene in einem akut wahnhaften Zustand befindet. Das daraus resultierende Leiden würde in unverhältnismäßiger Weise verlängert, würde man die ärztliche Maßnahme von einem zeitaufwändigen Genehmigungsverfahren abhängig machen.
j) Das nach § 331 Nr. 2 FamFG notwendige ärztliche Zeugnis liegt in Form des Attests vom 02.01.2020 (Bl. 9 d.A.) vor. Mit dem Oberarzt K. wurde es von einem Facharzt für Psychiatrie ausgestellt.
Nach Anhörung des Betroffenen und seines Verfahrenspflegers ist die Kammer damit zu der Überzeugung gelangt, dass die Genehmigung der ärztlichen Zwangsmaßnahme mit Beschluss vom 02.01.2020 mit Ausnahme der beiden nicht erforderlichen Wirkstoffe verhältnismäßig und rechtmäßig ist.
3. Die Rechtsbeschwerde war gemäß § 70 Abs. 1 FamFG von Amts wegen beschränkt zuzulassen, weil die Rechtssache in Bezug auf die Frage, ob eine Zwangsbehandlung bei Fremdgefährdung durch eine Patientenverfügung verhindert werden kann, gerade angesichts der dargestellten Werbemaßnahme im Internet eine Vielzahl von Fällen betreffen wird und damit von grundsätzlicher Bedeutung ist.


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Ärzte Zeitung vom 04.02.2020:
Urteil
Zwangsbehandlung trotz Patientenverfügung rechtens

Auch wenn eine gegenteilige Verfügung vorliegt, darf ein psychisch Erkrankter zwangsbehandelt werden. Das urteilte ein Landgericht.
... (weiter lesen unter) ... > http://nlcontent.aerztezeitung.de/d-red ... &tags=test


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Zum Thema Patientenverfügung ... wird erneut informiert. Dazu der nachfolgende Hinweis:
Patientenautonomie am Lebensende - Vorsorgliche Verfügungen … Vortrag am 19.05.2020, 15.00 - 17.00 Uhr, Bürgerhaus Neuss-Erfttal, Bedburger Straße 61. - Referent: Werner Schell. - Eintritt frei. - Infos unter > viewtopic.php?f=7&t=23504
Pro Pflege - Selbsthilfenetzwerk (Neuss)
https://www.pro-pflege-selbsthilfenetzwerk.de/
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