Pflegende Tochter angebliche Totschlägerin ...
Verfasst: 06.08.2007, 07:32
Wie aus pflegender Tochter angebliche Totschlägerin werden kann
BERLIN taz vom 18.7.2007
Seit dem 9. Juli dieses Jahres muss sich die 59jährige Barbara S. vor der 29. Großen Strafkammer des Berliner Landgerichts wegen Totschlag verantworten. Sie soll ihrer Schwiegerrmutter im Frühsommer 2005 das verordnete Schmerzmittel Tramadol in tödlicher Überdosis verabreicht haben - um sie von ihren Leiden zu erlösen. Die Angeklagte bestreitet dies ebenso vehement wie glaubhaft.
Am 20. Mai fand der Sohn seine 82 jährige, bettlägerige Mutter, die an schweren Schmerzen litt, tot auf. Es ist das Bestattungsgesetz, die zweite Leichenschau vor der Kremation, welche die pflegende Schwiegertochter zu einer Angeklagten gemacht hat.
Experten rätseln jetzt, wie es nach dem Tod der Patientin in deren Blut zu einer Konzentrierung des Opiats Tramadol um mehr als das 10 fache der als zulässig geltenden Menge kommen konnte. Die u. a. an Schluckbeschwerden leidende Parkinsonpatientin hätte bis zu 100 Tabletten täglich zu sich nehmen müssen.
Prinzipiell bezweifelt wird von palliativmedizinischen Experten (die das Gericht nicht anhörte), ob die nach dem Tod gemessene Konzentration überhaupt Rückschlüsse auf eine Überdosierung zulässt. Vielmehr könnten bei Sterbenden stark verzögerte oder gar nicht mehr funktionierende Abbauprozesse dafür verantwortlich sein. Der Münchner Lehrstuhlinhaber für Palliativ Prof. Borasio hat – unabhängig von diesem Gerichtsfall – eine Studie angekündigt, die dieses Problem untersuchen will. Auch laut Prof. Müller-Busch (Berlin) wisse man noch viel zu wenig darüber, wie es im Einzelnen zu einer prämortalen Akkumulation von Morphin und einer derartigen postmortalen Erhöhung kommt, die von Gutachtern u. U. als Todesursache angenommenen wird.
DIE GESCHICHTE:
<< … Zweieinhalb Jahre lang pflegt die gelernte Polsterin, die mittlerweile Hausfrau ist, zusammen mit ihrem Mann und unterstützt von Pflegekräften ihre Schwiegermutter Irmgard L. Viele Jahre bevor das Paar die kranke Frau in ihr Haus am östlichen Stadtrand von Berlin nimmt, ist sie an Parkinson erkrankt. Zudem ist sie herzkrank, leidet an Arterienverkalkung, kann kaum essen und trinken. Im April 2005 ist die 82-Jährige nicht mehr imstande, das Bett zu verlassen. Jede Schluckbewegung ist eine Tortur, die 1,64 Meter große Frau wiegt nur noch 41 Kilogramm. Am Steiß hat sich ein großes Druckgeschwür gebildet, das ihr unerträgliche Schmerzen bereitet und im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel stinkt. Selbst die verordneten Schlaf- und Schmerzmittel kann sie nur unter großen Anstrengungen einnehmen. …
"Es steht Ihnen frei, sich zu äußern", eröffnet die Vorsitzende Richterin den ersten Verhandlungstag. Barbara S. ist 59 Jahre alt und eine zierliche, schick gekleidete Frau. … "Ich werde mich äußern", sagt sie leise. Um sie besser zu verstehen, bittet die Richterin sie nach vorne auf einen Stuhl vor ihrem Tisch. "Ich weiß überhaupt nicht, wie ich dazu komme, hier zu sitzen", sagt Barbara S. und tupft sich die Tränen aus den Augen. … Mehrmals habe ihre Schwiegermutter Ärzten gegenüber gesagt, dass sie sterben wolle. Die Angeklagte holt tief Luft. "Ich hätte das nie mit meinem Gewissen vereinbaren können." Die Bitte, ihr etwas zu geben, betont sie, habe ihre Schwiegermutter nicht an sie gerichtet. "Damit hätte ich nicht leben können." …
Klaus Vendura, der seit vielen Jahren als Facharzt für Rechtsmedizin am Landesinstitut für Gerichtliche und Soziale Medizin arbeitet, führt die von der Staatsanwaltschaft angeordnete Obduktion durch und wird als Zeuge gehört. Er stellt einen "eigentlich guten Pflegezustand" fest und "einen reduzierten Ernährungszustand". … Als Todesursache nennt er "den handfesten morphologischen Befund" …
Im Prozess stellt sich heraus, dass Barbara S. mit zwei völlig konträren Auskünften konfrontiert war. Die Hausärztin betont als Zeugin vor Gericht, dass sie stets gesagt habe, "dass ja nicht zu viel Tramadol gegeben wird". Sie hat die Einnahme von zweimal täglich 10 mg verschrieben, wegen des geringen Gewichts der Kranken und ihrer Verdauungsprobleme. … "Ohne Ende" könne man Tramadol geben, hört Barbara S. von dem Facharzt für Anästhesie, der ihrer Schwiegermutter das Druckgeschwür herausgeschnitten hat. Dem Gericht gegenüber gibt er an: "Das ist ja Quatsch. Das habe ich bestimmt nicht gesagt." Barbara S. schüttelt still den Kopf. Der Arzt räumt ein, dass er gesagt hat, dass die von der Hausärztin empfohlene Dosis erhöht werden könne. Die Patientin habe sich in einem "fast finalen Zustand" befunden, mit ihrem baldigen Tod sei zu rechnen gewesen …
Für Erhellung sorgt Benno Rießelmann, ein Toxikologe am Landesinstitut für Gerichtliche und Soziale Medizin. Die Richterin ist erleichtert, als der Fachmann in den Zeugenstand tritt. Mit den Worten: "Bevor wir ganz durcheinander geraten mit den Werten", bittet sie ihn um Aufklärung über das Schmerzmittel Tramadol. Rießelmann referiert zwei Stunden lang anschaulich über Tramadol und über die "auffälligen Ergebnisse" der toxikologischen Untersuchung bei Irmgard L. Im Schenkelvenenblut wurden 10 Milligramm pro Liter gefunden. … "Wenn täglich 200 Milligramm Tramadol gegeben werden, ist dieser Wert nicht erreichbar. Der hohe Wert ist nur durch eine Extragabe erklärbar." Auf die Nachfrage der Richterin, ob Tramadol "ohne Ende" zu geben sei, schüttelt er den Kopf. "Endfälle haben wir häufig." Bei einer Überdosierung trete der Tod schleichend ein. Verwundert verfolgt das Gericht auch seiner Ausführung darüber, dass im Beipackzettel von Tramadol nicht vor einer Überdosierung, einem möglichen Herzstillstand oder Atemdepression gewarnt wird, wohl aber in Fachinformationen für Ärzte und der Roten Liste, also dem Arzneimittelverzeichnis.>>
Quelle:
http://www.taz.de/index.php?id=start&ar ... 5c21ce012e
Lesen Sie auch von heute:
„Vielen Krebspatienten wird Morphin-Behandlung verweigert“
<< Bei jedem dritten Patienten seien die Beschwerden sogar so intensiv, dass er sich deshalb einen möglichst schnellen Tod herbeiwünsche >>
<< … betrachteten manche Ärzte das Mittel wegen der Gefahr lebensgefährlicher Atemstörungen bei hohen Dosierungen fälschlicherweise als Beitrag zur passiven Sterbehilfe.>>
Quelle:
http://www.net-tribune.de/article/030807-56.php
Quelle: PATIENTENVERFUEGUNG NEWSLETTER vom 3.8.2007
http://www.patientenverfuegung.de
BERLIN taz vom 18.7.2007
Seit dem 9. Juli dieses Jahres muss sich die 59jährige Barbara S. vor der 29. Großen Strafkammer des Berliner Landgerichts wegen Totschlag verantworten. Sie soll ihrer Schwiegerrmutter im Frühsommer 2005 das verordnete Schmerzmittel Tramadol in tödlicher Überdosis verabreicht haben - um sie von ihren Leiden zu erlösen. Die Angeklagte bestreitet dies ebenso vehement wie glaubhaft.
Am 20. Mai fand der Sohn seine 82 jährige, bettlägerige Mutter, die an schweren Schmerzen litt, tot auf. Es ist das Bestattungsgesetz, die zweite Leichenschau vor der Kremation, welche die pflegende Schwiegertochter zu einer Angeklagten gemacht hat.
Experten rätseln jetzt, wie es nach dem Tod der Patientin in deren Blut zu einer Konzentrierung des Opiats Tramadol um mehr als das 10 fache der als zulässig geltenden Menge kommen konnte. Die u. a. an Schluckbeschwerden leidende Parkinsonpatientin hätte bis zu 100 Tabletten täglich zu sich nehmen müssen.
Prinzipiell bezweifelt wird von palliativmedizinischen Experten (die das Gericht nicht anhörte), ob die nach dem Tod gemessene Konzentration überhaupt Rückschlüsse auf eine Überdosierung zulässt. Vielmehr könnten bei Sterbenden stark verzögerte oder gar nicht mehr funktionierende Abbauprozesse dafür verantwortlich sein. Der Münchner Lehrstuhlinhaber für Palliativ Prof. Borasio hat – unabhängig von diesem Gerichtsfall – eine Studie angekündigt, die dieses Problem untersuchen will. Auch laut Prof. Müller-Busch (Berlin) wisse man noch viel zu wenig darüber, wie es im Einzelnen zu einer prämortalen Akkumulation von Morphin und einer derartigen postmortalen Erhöhung kommt, die von Gutachtern u. U. als Todesursache angenommenen wird.
DIE GESCHICHTE:
<< … Zweieinhalb Jahre lang pflegt die gelernte Polsterin, die mittlerweile Hausfrau ist, zusammen mit ihrem Mann und unterstützt von Pflegekräften ihre Schwiegermutter Irmgard L. Viele Jahre bevor das Paar die kranke Frau in ihr Haus am östlichen Stadtrand von Berlin nimmt, ist sie an Parkinson erkrankt. Zudem ist sie herzkrank, leidet an Arterienverkalkung, kann kaum essen und trinken. Im April 2005 ist die 82-Jährige nicht mehr imstande, das Bett zu verlassen. Jede Schluckbewegung ist eine Tortur, die 1,64 Meter große Frau wiegt nur noch 41 Kilogramm. Am Steiß hat sich ein großes Druckgeschwür gebildet, das ihr unerträgliche Schmerzen bereitet und im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel stinkt. Selbst die verordneten Schlaf- und Schmerzmittel kann sie nur unter großen Anstrengungen einnehmen. …
"Es steht Ihnen frei, sich zu äußern", eröffnet die Vorsitzende Richterin den ersten Verhandlungstag. Barbara S. ist 59 Jahre alt und eine zierliche, schick gekleidete Frau. … "Ich werde mich äußern", sagt sie leise. Um sie besser zu verstehen, bittet die Richterin sie nach vorne auf einen Stuhl vor ihrem Tisch. "Ich weiß überhaupt nicht, wie ich dazu komme, hier zu sitzen", sagt Barbara S. und tupft sich die Tränen aus den Augen. … Mehrmals habe ihre Schwiegermutter Ärzten gegenüber gesagt, dass sie sterben wolle. Die Angeklagte holt tief Luft. "Ich hätte das nie mit meinem Gewissen vereinbaren können." Die Bitte, ihr etwas zu geben, betont sie, habe ihre Schwiegermutter nicht an sie gerichtet. "Damit hätte ich nicht leben können." …
Klaus Vendura, der seit vielen Jahren als Facharzt für Rechtsmedizin am Landesinstitut für Gerichtliche und Soziale Medizin arbeitet, führt die von der Staatsanwaltschaft angeordnete Obduktion durch und wird als Zeuge gehört. Er stellt einen "eigentlich guten Pflegezustand" fest und "einen reduzierten Ernährungszustand". … Als Todesursache nennt er "den handfesten morphologischen Befund" …
Im Prozess stellt sich heraus, dass Barbara S. mit zwei völlig konträren Auskünften konfrontiert war. Die Hausärztin betont als Zeugin vor Gericht, dass sie stets gesagt habe, "dass ja nicht zu viel Tramadol gegeben wird". Sie hat die Einnahme von zweimal täglich 10 mg verschrieben, wegen des geringen Gewichts der Kranken und ihrer Verdauungsprobleme. … "Ohne Ende" könne man Tramadol geben, hört Barbara S. von dem Facharzt für Anästhesie, der ihrer Schwiegermutter das Druckgeschwür herausgeschnitten hat. Dem Gericht gegenüber gibt er an: "Das ist ja Quatsch. Das habe ich bestimmt nicht gesagt." Barbara S. schüttelt still den Kopf. Der Arzt räumt ein, dass er gesagt hat, dass die von der Hausärztin empfohlene Dosis erhöht werden könne. Die Patientin habe sich in einem "fast finalen Zustand" befunden, mit ihrem baldigen Tod sei zu rechnen gewesen …
Für Erhellung sorgt Benno Rießelmann, ein Toxikologe am Landesinstitut für Gerichtliche und Soziale Medizin. Die Richterin ist erleichtert, als der Fachmann in den Zeugenstand tritt. Mit den Worten: "Bevor wir ganz durcheinander geraten mit den Werten", bittet sie ihn um Aufklärung über das Schmerzmittel Tramadol. Rießelmann referiert zwei Stunden lang anschaulich über Tramadol und über die "auffälligen Ergebnisse" der toxikologischen Untersuchung bei Irmgard L. Im Schenkelvenenblut wurden 10 Milligramm pro Liter gefunden. … "Wenn täglich 200 Milligramm Tramadol gegeben werden, ist dieser Wert nicht erreichbar. Der hohe Wert ist nur durch eine Extragabe erklärbar." Auf die Nachfrage der Richterin, ob Tramadol "ohne Ende" zu geben sei, schüttelt er den Kopf. "Endfälle haben wir häufig." Bei einer Überdosierung trete der Tod schleichend ein. Verwundert verfolgt das Gericht auch seiner Ausführung darüber, dass im Beipackzettel von Tramadol nicht vor einer Überdosierung, einem möglichen Herzstillstand oder Atemdepression gewarnt wird, wohl aber in Fachinformationen für Ärzte und der Roten Liste, also dem Arzneimittelverzeichnis.>>
Quelle:
http://www.taz.de/index.php?id=start&ar ... 5c21ce012e
Lesen Sie auch von heute:
„Vielen Krebspatienten wird Morphin-Behandlung verweigert“
<< Bei jedem dritten Patienten seien die Beschwerden sogar so intensiv, dass er sich deshalb einen möglichst schnellen Tod herbeiwünsche >>
<< … betrachteten manche Ärzte das Mittel wegen der Gefahr lebensgefährlicher Atemstörungen bei hohen Dosierungen fälschlicherweise als Beitrag zur passiven Sterbehilfe.>>
Quelle:
http://www.net-tribune.de/article/030807-56.php
Quelle: PATIENTENVERFUEGUNG NEWSLETTER vom 3.8.2007
http://www.patientenverfuegung.de