Beaufsichtigung und Betreuung behinderter Menschen

Rechtsbeziehung Patient – Therapeut / Krankenhaus / Pflegeeinrichtung, Patientenselbstbestimmung, Heilkunde (z.B. Sterbehilfe usw.), Patienten-Datenschutz (Schweigepflicht), Krankendokumentation, Haftung (z.B. bei Pflichtwidrigkeiten), Betreuungs- und Unterbringungsrecht

Moderator: WernerSchell

Antworten
WernerSchell
Administrator
Beiträge: 25257
Registriert: 18.05.2003, 23:13

Beaufsichtigung und Betreuung behinderter Menschen

Beitrag von WernerSchell » 01.02.2008, 08:04

Bei der Beaufsichtigung und Betreuung behinderter Menschen müssen deren Würde gewahrt und ihrer Persönlichkeitsentwicklung Rechnung getragen werden

Der Fall:
Ein seit langem in einer Wohnstätte lebender Mann mit geistiger Behinderung half einem Mitarbeiter der Einrichtung beim Transport von Materialien zu einer der Einrichtung gegenüber befindlichen Außenwohnanlage. Da in dem Fahrzeug nicht genügend Platz war, führte der Mitarbeiter den behinderten Mann an die nahegelegene Fußgängerampel und wartete, bis er die Straße überquert hatte. Nach dem Eintreffen auch des Mitarbeiters entluden beide das Fahrzeug, wobei Materialien in das Obergeschoss zu transportieren waren. Während sich der Mitarbeiter noch im Obergeschoss aufhielt, befand sich der behinderte Mann bereits wieder im Erdgeschoss und rief dem Mitarbeiter zu, dass er ins Wohnheim zurück gehen wolle. Der Mitarbeiter wies ihn an, auf ihn zu warten und eilte durch das Treppenhaus in das Erdgeschoss. Entgegen dieser Weisung hatte der behinderte Mann das Haus bereits verlassen und versucht, die zwischen den Einrichtungen befindliche Straße an nicht gesicherter Stelle zu überqueren. Dabei wurde er von einem Fahrzeug erfasst und schwer verletzt. Die eingereichte Schadensersatzklage des Verletzten richtete sich sowohl gegen die Einrichtung als auch gegen den Mitarbeiter. Der behinderte Mann verlangte als Kläger Schadensersatz für seine beschädigte Kleidung und ein angemessenes Schmerzensgeld. Der Vater des behinderten Mannes begehrte Schadensersatz für die im Hinblick auf die Betreuung des Mannes während des Krankenhausaufenthaltes und der Rehabilitation entstandenen Kosten. Das Landgericht (LG) Aachen wies die Klage ab.

Entscheidungsgründe:
Es liege nach Überzeugung des Gerichts keine Aufsichtspflichtverletzung vor. Es sei auf die langjährige Rechtsprechung zu verweisen. Danach habe ein Aufsichtspflichtiger seiner Verpflichtung genügt, wenn er zur Verhinderung einer Schädigung alles getan habe, was von ihm in seiner Lage vernünftigerweise verlangt werden konnte. Das Maß der anzuwendenden Sorgfalt bestimme sich nach den Umständen des Einzelfalles. Bei zu beaufsichtigenden behinderten Personen seien einerseits deren körperliche und geistige Eigenarten ausschlaggebend, andererseits müsse bei der Beaufsichtigung und Betreuung auch die Würde behinderter Menschen gewahrt und ihrer Persönlichkeitsentwicklung Rechnung getragen werden. Behinderten Menschen solle ein menschenwürdiges Leben ermöglicht werden, das sich weitgehend dem nichtbehinderter Menschen annähere. Aus diesem Grunde und um therapeutischen Zielsetzungen gerecht zu werden, müssten individuelle Freiräume geschaffen werden, auch wenn dies mit gewissen Risiken verbunden sei. Diesen Maßgaben seien sowohl die Einrichtung als auch deren Mitarbeiter gerecht geworden. Die Mithilfe des behinderten Mannes beim Transport sei geeignet gewesen, seine Eigenverantwortlichkeit zu fördern und sein Selbstwertgefühl zu steigern. Er sei damit auch nicht überfordert gewesen, denn er habe sich in der Umgebung der Einrichtung ausgekannt, beherrschte Verkehrsregeln und habe häufig selbstständig Botengänge in der näheren Umgebung getätigt. Zeugen bestätigten, dass er sich in vertrauter Umgebung durchaus verkehrssicher bewegte. Für den beklagten Mitarbeiter habe kein Anlass bestanden, in der konkreten Situation besondere Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, wie z. B. das Verschließen der Eingangstür oder eine Überwachung des behinderten Mannes auf Schritt und Tritt. Dies wäre auch im Hinblick auf das Persönlichkeitsrecht und die Persönlichkeitsentwicklung des behinderten Mannes unangemessen gewesen. Auf Grund des bisherigen Verhaltens des behinderten Mannes, der stets die Anordnungen der Betreuer befolgt habe, habe es für den beklagten Mitarbeiter keinen Anlass gegeben, daran zu zweifeln, dass der behinderte Mann im konkreten Fall anders reagieren würde. Der beklagte Mitarbeiter habe seine Aufsichtspflicht nicht verletzt. Es habe sich um ein unvorhersehbares Verhalten des behinderten Mannes gehandelt, das auf Grund seines bisherigen Verhaltens für einen besonnenen und verständigen Betreuer nicht absehbar gewesen sei. Da eine Pflichtverletzung des Erfüllungs- bzw. des Verrichtungsgehilfen zu verneinen sei, steht dem behinderten Mann auch kein Anspruch gegen den Einrichtungsträger aus positiver Vertragsverletzung des Heimvertrages zu. Die Schadensersatzansprüche des klagenden Vaters seien mit dem Hinweis, dass ein solcher Anspruch an fehlender Pflichtverletzung des beklagten Mitarbeiters scheitere, abzuweisen.

Urteil des LG Aachen vom 14.11.2003 – 9 O 481/02 –
Pro Pflege - Selbsthilfenetzwerk (Neuss)
https://www.pro-pflege-selbsthilfenetzwerk.de/
Bild

Antworten