Angst der Schwerstkranken: richtigen Zeitpunkt verpassen

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Angst der Schwerstkranken: richtigen Zeitpunkt verpassen

Beitrag von Service » 17.12.2007, 11:18

- Die Angst, als Schwerstkranke den richtigen Zeitpunkt zu verpassen
- Menschlichkeit im Widerstand gegen ärztliche Standespolitik


Eine wahre Geschichte, wo Palliativmedizin und Hospiz nicht helfen können:

Marly Wegner, 79 Jahre, ehemalige Krankenschwester aus Potsdam, leidet seit über 40 Jahren an progressiver Polyarthrose. Die immer schmerzhafter werdenden Gelenksentzündungen, die starken Bewegungseinschränkungen sind medizinisch schon lange nicht mehr in den Griff zu bekommen – es sei denn mit Auswirkungen, die „das Bewusstsein vernebeln“, sagt sie.

Eine starke und gefestigte Witwe, die - immer noch - gern weiterleben möchte. Obwohl manchmal in der Nacht die Schmerzen so groß sind, dass sie Alpträume hat, z. B. wie ein Krokodil „mir die Hüfte herausgebissen“ hat oder wie Arbeiter im Wald gerade Baumstämme absägen „und da erfassen sie aus Versehen meine Arme mit.“ Dass sie dann nicht aufwacht, erklärt sie mit der großen Erschöpfung, dem täglichen Kämpfen vom Tage. Sie bewegt sich mit einem Rollator. Sie erzählt, wie sie manchmal durch die Wohnung krieche, sich rückwärts, ans Geländer geklammert, die Treppe herunterhangle.

Eine tödliche Erkrankung hat Marly Wegner nicht. Auch ist sie voll in ihre Familie mit fünf Enkelkindern sowie auch in eine Kirchengemeinde eingebunden. Dennoch hat sie schon vor Jahren den Entschluss gefasst, einmal ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen.

Ihr Motiv ist Angst. Vor dem Pflegeheim, vor einem Noch- Nicht-Todkranksein, vor dem langsamen Sterben, an dessen Ende vielleicht nur noch die Bewusstlosigkeit durch palliativmedizinische Sedierung steht. Das Versprechen von Hospiz- und Palliativ-Bewegung auf ein gutes Lebensende hält sie für „Betrug“. Vielleicht fällt auch deshalb ihr Urteil überzogen und ungerecht aus, weil diese das „Hintertürchen“ des begleiteten Suizids besonders fest verschlossen halten wollen. Dass dieser Ausweg – zur Zeit nur in der Schweiz möglich – offen bleibt, ist für sie aber ein ganz wichtiger Trost. Ohne diese Hoffnung glaubt sie bei der Bewältigung der Schmerzen und der Aussichtslosigkeit nicht zurecht kommen zu können.

Die Idee, dass andere Druck auf sie ausüben könnten, in den vorzeitigen Tod zu gehen, weist sie als nicht nachvollziehbar zurück. Im Gegenteil ist es auch bei ihr so, dass die Familie erst überzeugt werden musste.

Sie wünscht sie sich fast sehnlichst: „Zum richtigen Zeitpunkt“ eine ärztliche Suizidbegleitung zu Hause. Wenn gesagt wird, jeder kann doch straflos allein aus dem Leben zu scheiden, erscheint dies zynisch. Marly Wegner weist darauf hin, wie riskant das sei und wie leicht dies schlimm enden oder schief gehen könnte. Sie begrüßt und unterstützt deshalb, wenn den wenigen aus freiem Entschluss Sterbewilligen, die es in Deutschland gibt, bald die mühevolle oder auch unwürdige Fahrt in die Schweiz erspart werden kann.

An der Hand eines Menschen zu sterben, wie es in der Hospizbewegung gern heißt, entspricht ihr nicht. Sie ist sich sicher, besser „loslassen“ zu können, wenn Angehörige im Sterbezimmer nicht anwesend sind. Ihren Enkeln hat sie allerdings versprochen, sich von ihnen zu verabschieden und auf keinen Fall „einfach zu verschwinden“.

Interview in der Süddeutschen Zeitung mit Marly Wegner mit genauer Quellenangabe siehe:
http://www.patientenverfuegung.de/pv/detail.php?uid=476

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Zu den 10 Erstunterzeichner/innen der ärztlichen Initiative http://www.prosterbehilfe.de gehört die Medizinethikerin Prof. Dr. med. Bettina Schöne-Seifert von der Universität Münster. Sie war zudem Mitglied des nationalen Ethikrats.

Plädoyer von Prof. Bettina Schöne-Seifert im Stern (Auszug) vom 8.12.:

<< Suizidhilfe muss legalisiert werden

.. Palliativmedizin macht die Diskussion um Suizidhilfe keineswegs überflüssig: Manche Patienten leiden unstillbare Schmerzen, andere wünschen sich auch ohne Schmerzen und mit lieben Angehörigen ein schnelles Ende ihres Siechtums. Wer könnte sich anmaßen, solche Suizidwünsche moralisch zu verurteilen?

Schwerstkranke sind oft unfähig, sich das Leben ohne fremde Hilfe zu nehmen. Und der Wunsch, dies mit Medikamenten wenigstens sicher und erträglich zu bewerkstelligen, ist nur allzu verständlich. Sie bräuchten also ein Rezept aber oft auch die hilfreiche Anwesenheit des Arztes im Ernstfall. Um wie viel menschlicher wäre das als der Suizid-Tourismus auf schweizerische Parkplätze.

Der standespolitische Widerstand der Ärztekammer gegen Suizidhilfe steht gegen die mehrheitliche Meinung der Öffentlichkeit. Vor allem aber entbehrt er einer plausiblen Rechtfertigung. Denn warum sollte Suizidhilfe in solchen Extremfällen unärztlich sein? Für echte Krisen wünschen wir uns zu Recht den Arzt als Freund mit Fachkompetenz, Hilfsbereitschaft und Respekt vor unserer Selbstbestimmung. Natürlich soll es diesem Arzt-Freund zumeist um Heilung, Linderung und Rettung gehen aber in Grenzfällen eben auch um andere kompetente Hilfe. ...

Ich bin überzeugt: ärztliche Suizidhilfe als eine letzte Hintertür offen zu halten, wäre ein Gewinn an Menschlichkeit. >>

Quelle (mit Foto der Autorin):
http://www.stern.de/politik/panorama/:P ... 2&nv=ct_cb

Aufruf in http://www.prosterbehilfe.de:

Wenn Sie diese Position von Prof. Bettina Schöne Seiffert u.a. teilen - vor allem als Arzt oder Ärztin im klinischen, häuslichen, palliativen oder geriatrischen Bereich - können Sie sich auf der Seite http://www.prosterbehilfe.de als Unterzeichner/in registrieren lassen.
Sie finden dort den Aufruftext, den Sie auch ausdrucken und anderen vorlegen können.
Bei Bedarf ist ein vertraulichen Erfahrungsaustausch mit gleichgesinnten Kolleg/innen möglich.

Quelle: PATIENTENVERFUEGUNG NEWSLETTER
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http://www.patientenverfuegung.de

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